Das Wissen des Glaubens und das Nicht-Wissen der Wissenschaft

Was macht die Wissenschaft zur Wissenschaft? An erster Stelle das Wissen, sollte man meinen: gesicherte Erkenntnisse, für alle, die guten Willens sind objektiv an gemeinsam geteilten Maßstäben überprüfbar. - Wie anders erscheint demgegenüber vielen Menschen heutzutage der christliche Glaube: eine höchst subjektive Angelegenheit, ganz und gar gebunden ans persönliche Für-Wahr-Halten - ohne dass diese Wahrheit allgemein gezeigt oder gar bewiesen werden könnte.

Das Wissen zeichnet die Wissenschaft aus, gerade im Unterschied zum Glauben. Eine interessante Umkehrung dieser Zuordnung hat der  israelische Universalgeschichtler Yuval Harari in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ vorgenommen. In seiner Sicht steht am Anfang der Wissenschaft das Eingeständnis der eigenen Unwissenheit:

„Die wissenschaftliche Revolution war keine Revolution des Wissens, sondern vor allem eine Revolution der Unwissenheit. Die große Entdeckung, mit der die wissenschaftliche Revolution losgetreten wurde, war die Erkenntnis, dass wir Menschen nicht im Besitz der Wahrheit sind, und  dass wir auf die wichtigsten Fragen keine Antworten wissen.“ (Y. Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, S. 306)

Nicht das Wissen, sondern das Nicht-Wissen treibt die Geschichte der Neuzeit voran, so Harari. Ein Detail illustriert diesen Antrieb der neuzeitlichen Wissenschaft wie ich finde ganz besonders: Zeichnerische Darstellungen der Erde, also Landkarten, gab es schon lange vor der wissenschaftlichen Revolution. Wurden zuvor und in anderen Kulturen auf den entsprechenden Karten unbekannte Regionen weggelassen oder mit Fabelwesen gefüllt, so gingen die Kartenzeichner im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts nun dazu über, Weltkarten mit vielen weißen Flecken zu zeichnen. Die weißen Flecken markierten einen Wendepunkt, sie bedeuteten das Eingeständnis, große Teile der Welt (noch) nicht zu kennen. Die Erkundung neuer Kontinente und die Beobachtung neuer Phänomene wurden interessanter als die alten Überlieferungen, das Ausstehende und Unbekannte spannender als das Feststehende und Bekannte.

Für Yuval Harari liegt hier der große Unterschied von der modernen Revolution des Wissens zu den überkommenen Traditionen von Religion und Glaube: Sie implizierten, so Harari, alles Entscheidende schon zu wissen. Es bedurfte lediglich der kundigen und weisen Auslegung des schon feststehenden Wissens.

Nun ist freilich interessant, dass Neugier und Entdeckerlust in der europäischen Wissenschaft in nicht geringem Maß von Geistlichen bzw. aus Pfarrhäusern heraus entsprangen. Man muss dabei gar nicht Johann Caspar Lavater und Sebastian Kneipp oder Charles Darwin und Thomas Malthus bemühen. Auch am Beginn eines der größten Versicherungsunternehmen der Welt, der Scottish Widows Group und damit der neuzeitlichen Versicherungsmathematik stehen die Namen einiger schottischer Pfarrer.

Hat also der Drang der Forschung und die Freude an der Entdeckung womöglich doch mehr mit dem Wissen des Glaubens gemein, als Hararis Gegensatz dies nahelegt?

Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er tritt für die Heiligen ein, wie Gott es will. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. (Römerbrief des Paulus, 8. Kap., Verse 22 bis 28)

Das Wissen, von dem Paulus in seinen Versen spricht, spannt einen Zeithorizont auf. Das Seufzen der Schöpfung, die Sehnsucht nach Erlösung, die Zusage der Hoffnung, das Eintreten des Geistes: all das, was Paulus hier in starken Bildern als Wissen des Glaubens beschreibt,  öffnet die Welt nach vorne und macht einen Raum auf, die Erwartung des Kommens Christi öffnet die Zukunft – für die ganze Schöpfung.
Die jüdisch-christliche Tradition hat mit ihren Impulsen ihrerseits dazu beigetragen, dass sich in der Geschichte ein Raum öffnet, der zu Entdeckung und Forschung einlädt. Neugier ist also keineswegs nur der menschlichen Natur geschuldet. Neugier im Sinn der Erkundung des Nicht-Wissens steht durchaus in Verbindung zum christlichen Glauben, ich meine, weil und sofern dieser auf seine Weise um das Noch-Nicht, um das Ausstehende, wenn man so will: um die weißen Flecken weiß.  

Die Neugier und Entdeckerfreude der Wissenschaft steht also in der Geschichte nie einfach für sich, sondern lebt immer in Zusammenhängen. Yuval Hararis Nacherzählung der Geschichte führt uns vor Augen, dass der Impuls des Nicht-Wissens am Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft zwei starke Verbündete hatte: Die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft lässt sich nicht ohne ihren Zusammenhang mit der Geschichte europäischer Imperien und der Geschichte des Kapitalismus erzählen. Beide Verbündete verhalfen der wissenschaftlich-technischen Revolution der Neuzeit zum Erfolg – und beide Verbündete sind mit ursächlich dafür, dass die Menschheit heute am Erfolg der wissenschaftlich-technischen Revolution zu ersticken droht. Die Mentalität des Eroberns und der Wahn bedingungslosen Wachstums haben mit dazu beigetragen, dass die Wissenschaft selbst religiöse Züge bekommen hat und der wissenschaftliche Fortschritt zum Maß seiner selbst verabsolutiert wird.

Für den christlichen Glauben stellt sich an dieser Stelle zunächst die kritische Frage, wo und wie er selbst mit seiner eigenen Struktur zu den problematischen Folgen der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit beigetragen hat. Die exegetische Forschung hat ihrerseits mit wissenschaftlichen Mitteln insbesondere im Neuen Testament die Tendenz zu einem anthropozentrischen Weltbild  festgestellt. Umso wichtiger und mit mehr Aufmerksamkeit werden im Gespräch mit der Wissenschaft heute die  Passagen des Neuen Testaments wahrgenommen, die eine Sicht erkennen lassen, die den Menschen nicht von seinen geschöpflichen Bezügen isoliert. Eine dieser Stellen sind unsere Verse aus dem Römerbrief: Paulus thematisiert hier den Zusammenhang von gegenwärtigem Leiden und zukünftiger Herrlichkeit nicht allein im Blick auf das Leben der Christen, sondern auf das Schicksal der gesamten Schöpfung. Der Mensch ist Teil der Schöpfung, und auch die außermenschliche Schöpfung seufzt und wartet auf Rettung und Befreiung. Das Wissen des Glaubens entdeckt in diesen Versen des Paulus den Zusammenhang des menschlichen Leidens und der menschlichen Hoffnung mit der gesamten Schöpfung, auch der Tierwelt und dem Kosmos.

Was aber halten diese Verse für das Nicht-Wissen der Wissenschaft in petto?
Sie helfen der Wissenschaft, das Nicht-Wissen aus- und die eigenen Voraussetzungen offen zu halten – indem sie der Wissenschaft einen archimedischen Punkt außerhalb ihrer selbst bieten. Es scheint mir bemerkenswert, dass nicht wenigen Forscherinnen und Forschern –  auch heute Anwesenden – in existenzieller Perspektive ein Standpunkt außerhalb ihrer Wissenschaft wichtig ist. So paradox dies klingt: dieser Standpunkt des Glaubens im Sinne des existenziellen Vertrauens trägt dazu bei, Wissenschaft voraussetzungsfrei zu betreiben und sorgt so dafür, dass Wissenschaft Wissenschaft bleibt und nicht ihrerseits zur Religion verkommt. Das Wissen des Glaubens könnte so gesehen ein Potenzial sein, um die neuzeitliche Wissenschaft aus der Gefangenschaft ihres eigenen Mythos zu befreien!

Was heißt das nun für den Blick nach vorne im Blick auf das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft? Ich möchte aus dem Gespräch zwischen Paulus und Yuval Harari vier Einsichten für den Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft festhalten:

  • Erstens: Auch wenn in den vergangenen Jahrhunderten ungeheuer viel weiße Flecken gefüllt wurden und das Wissen sich enorm erweitert hat: Es braucht - auf beiden Seiten -  das Offenhalten für das Nicht-Wissen. Abschließende Definitionen über den Menschen oder die Welt sind fehl am Platz, so viele Daten auch zur Verfügung stehen mögen und so genau das menschliche Genom auch sequenziert sein mag. Auch wenn heute schon vieles erforscht ist: das Eingeständnis, große Teile der Welt (noch) nicht zu kennen, hält das Geheimnis lebendig: das Geheimnis des Menschseins und das Geheimnis der Welt.

  • Zweitens: Es braucht Verständigung auf gemeinsame Bezugspunkte: Die Verse des Paulus beinhalten einen solchen, und er scheint mir für das Gespräch mit Naturwissenschaft und Technologie gerade heute aktuell: Paulus sieht im Leiden einen wesentlichen Zusammenhang der Schöpfung. Könnte hier – in der Compassion mit dem Leiden  der anderen, wie Johann Baptist Metz vorgeschlagen hat - ein Bezugspunkt liegen, der an die Stelle der Mentalität des Eroberns tritt? Nicht um das Leiden durch Optimierung aller Art auszumerzen und zu verdrängen, sondern um Forschung und Wissensdurst in einer „Kultur der Empfindsamkeit“ zu verankern.

  • Drittens: Es braucht einen realistischen Blick für die Aufgaben, die anstehen. Angesichts der weißen Flecken und des Ausstehenden legt sich für die einen der apokalyptisch-düstere Blick nahe: In den technologischen Entwicklungen erkennen sie den Verfall der Kultur. Die andern sehen in neuen Technologien ein neues Zeitalter heraufziehen, das die Augen leuchten lässt. Die Perspektive der christlichen Hoffnung, die Paulus hier entwirft, ermöglicht einen realistischen Blick: einen Blick der Möglichkeiten und Grenzen, Chancen und Gefahren gleichermaßen wahrnimmt.

  • Viertens und letztens: Was einem solchen realistischen Blick dabei hilft, ist nicht das Wissen, sondern die Gewissheit: Gewissheit und Vertrauen im Sinne der Hoffnung auf das, was man nicht sieht, was Gottes Geist uns im Glauben immer wieder neu schenkt.

 

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. (Römer 8, 38f.)